Jazz ist ein Kind der Freiheit

Veröffentlicht: 19. Januar 2020 in Allgemein

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Das Silke Eberhard Trio eröffnete das Jazzjahr 2020 der Initiative Jazz Braunschweig                                                           Text und Fotos: Klaus Gohlke

Musik ist ein flüchtig Ding. Des ist man oftmals froh, mitunter aber auch nicht. Vor allem bei Jazzkonzerten. Ganz besonders schmerzlich, wenn die Musik über einen kommt wie der Sturm und in so vielfältig gebrochener Weise, wie dies das Silke Eberhard Trio am Freitagabend im Roten Saal zu Braunschweig tat.

Zum Beispiel: Nur ein Ton!  Knallig, scharf, von allen zugleich. Dann  Pause. Tja, wie ging es weiter? Zwei Takte oder etwas länger? War das dann ein Thema oder nur eine Art Ton-Bewegung. Hören kann so schwierig sein, wie das Spielen von Musik. Über die verwirrende Fortsetzung musikalischen Geschehens vergaß man schon den Einstieg. Waren das nun Melodien oder deren Fragmente? Oder aber Flächen?

Wie auch immer im Detail – das Trio zeigte, was es heißt, die Traditionen zu kennen und fort zu entwickeln. Es wurde natürlich nicht nur ein wenig am harmonischen Korsett gerüttelt. Nein, Jazz ist ein Kind der Freiheit. Darum ging es. Gewiss, für Freunde der sanglich-melodischen, harmonisch eingängigeren Musik war das schwere Kost. Wobei allerdings die entspannte, spielerische Haltung der Musiker doch zum Aushalten einlud. Aber – macht es nicht auch Spaß, zu erleben, wie das Trio quasi telepathische Tempo- und Taktwechsel, ein blitzschnelles Changieren zwischen verschiedenen rhythmischen Idiomen vorführte? Wie die Begleitstrukturen zerflossen, sich neu ordneten und verselbständigten, um eigene Wege zu gehen? Natürlich ist das nicht so einfach zu erkennen, besonders, weil Silke Eberhard gerade nicht zu den „Kaltblütern“ am Instrument gehört, also das Tempo, den Druck liebt.

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Dabei verführen die Songtitel geradezu. „Schneekatze“, „One for Laika“, „Belka und Strelka“, „Strudel“, „Damenschrank“(!) „Schwarzwurzelwäldle“, „Ping-Pong“. Das klingt nach Programmmusik. Aber, weit gefehlt, zu glauben, „Laika“ sei ein Requiem und die Schneekatze striche irgendwo leis-tatzig durch die Gegend. Schön: „Strudel“ fängt – sofern man ans Wasser denkt – durchaus wirbelnd an. Ein Chaos. So endet es auch. Aber sogleich stellen sich die Fragen ein:  Ist das Trio der Tonalität verpflichtet? Oder wird diese eher von innen heraus verändert statt zerbrochen? Die Tonskalen werden aufgrund ihres offenen Charakters flexibel ausgedeutet zwischen Bass und Saxofon hin zu einer Polymelodik.  Es gibt keine vom Thema her definierte Chorusstruktur, was spontanes Reagieren auf harmonisch-rhythmische Wendungen zur Folge hat. Eine Art von Befreiung der Melodie von formalen Fesseln vertikaler Ordnungen. Allerdings: Dazwischen auch eingängige, wunderbar swingende Intermezzi. Und spielte die Klarinette nicht auf einmal tänzerisch-locker im Benny-Goodman-Sound? Mit Charles Mingus könnte man von einer „organisierten Desorganisation“ sprechen.

Was das Konzert spannend machte, war auch die absolut gleichberechtigte Kommunikation der Instrumentalisten. Natürlich ist Silke Eberhard die Chefin auf der Bühne. Wer jedoch auf welche Weise auf harmonische Wendungen der Bläsersolistin reagiert, ist freigestellt. Soloparts unterliegen keiner schematischen Verteilung.  Es gibt eben keine Begleiter, nur Mitspieler. Kay Lübke am Schlagzeug beeindruckte mit einer Vielfalt an Klängen, die er mit einem relativ kleinen Schlagzeug-Besteck zu erzeugen wusste. Es ging eben nicht nur um das time-keeping. Es ging um eigene rhythmisch-klangliche Gestaltung. Um ein Grundieren, Umspielen, Erweitern, Unterlaufen,  Neuordnen der musikalischen Ideen. Das traf in gleichem Maße auf Jan Roder am Kontrabass zu. Mühelos bewegte er sich über das gesamte Griffbrett. Expressive Glissandi, feine Bendings und eine ausgefeilte Dynamik zeichneten sein Spiel aus. Allerdings – wegen der Mikro-Abnahme- nicht immer gut beim Forte-Spiel herauszuhören. Sein langes Bass-Intro vor der Pause war schlichtweg eindrucksvoll.

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Dass Silke Eberhard zu den versiertesten Könnern an ihren Instrumenten zählt, muss nicht herausgehoben werden. Dass sie im Sommer den Berliner Jazzpreis 2020 erhält, spricht für sich. Schön vor allem, dass die MusikerInnen aus entspannter Haltung Momente größter Intensität entwickelten, frei von Avantgarde-Attitüden. Viel Beifall für einen guten Start ins Jazzjahr 2020 mit der Initiative Jazz-Braunschweig.

Zwischen Tradition und Avantgarde

Veröffentlicht: 12. Januar 2020 in Allgemein

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Das Silke Eberhard Trio entwickelt den modernen Jazz beharrlich weiter

Das Jahr fängt sehr gut an für Silke Eberhard, eine der renommiertesten deutschen Saxofon- und Bass-Klarinette-Spielerinnen. Nach dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ist ihr nun der Berliner Jazzpreis 2020 zuerkannt worden.   Am kommenden Freitag gastiert sie in mit ihrem Trio in Braunschweig. Unser Mitarbeiter Klaus Gohlke sprach mit ihr über den kommenden Auftritt.

Mir scheint, Kontinuität ist Dir bei der Fortentwicklung deiner musikalischen Ideen sehr wichtig. Mit Deinem Trio arbeitest Du schon weit über zehn Jahre zusammen.

Kontinuität ist ja nicht das Gegenteil von Progressivität. Mein Trio ist so etwas wie eine „Working Band“, in der wir unsere musikalischen Ideen stetig weiterentwickeln. Das sind gewissermaßen Forschungsprojekte. In dieser Gruppe spüre ich große Freiheit. Es ist meine Musik, es sind meine Improvisationen, vor allem Leute, mit denen ich gern zusammenspiele.

Deine Musik setzt sich explizit mit Eric Dolphy, Charles Mingus und Ornette Coleman auseinander. Warum sind sie Dir noch immer so wichtig?

Ihre Musik berührt mich. Heute. Ich hab von denen allen gelernt. Sie sind mein musikalisches Fundament, auf dem ich aufbaue.

Du spielst keinen Schmuse-Jazz. Was erwartet die ZuhörerInnen?

Gerne können die Menschen auch zu meiner Musik schmusen! Die Triobesetzung mit Saxophon, Bass und Schlagzeug ist gewissermaßen „klassisch“.  Die fundamentalen Kategorien Melodie, Basslinie und Rhythmus sind ideal verkörpert. Dieses Format steht in einer langen Tradition im Jazz. Diese Linie führen wir weiter.

 Du warst 2007 schon einmal in Braunschweig. Hat sich die Jazzwelt aus deiner Sicht seitdem verändert?

Die Frage ist sehr komplex. Zwei Hinweise vielleicht:  Die gesellschaftlich virulente Debatte um Geschlechtergerechtigkeit ist auch im Jazz angekommen. Auch die Fragmentierungsprozesse, die wir gesamtgesellschaftlich erleben, sind im Jazz zu sehen und so gibt es beide Tendenzen – globale, was Rezeptionsmöglichkeiten, Kooperationen etc. betrifft,  und partikulare, was z.B. Spezialisierung der Szenen und deren Narrative anbetrifft.

Deine Wahlheimat – Du bist ja gebürtige Schwäbin – ist Berlin. Ist Berlin so etwas wie die Jazzhauptstadt Deutschlands?

Berlin ist aus meiner Sicht zur Zeit die für Jazz zentrale Stadt in Deutschland, wenn nicht darüber hinaus. Die Szene ist in den letzen beiden Jahrzehnten enorm gewachsen – und zwar vor allem auch an internationalen Musikern. Das bedeutet natürlich nicht, dass Impulse ausschließlich von Berlin ausgehen. Was die Schwäbin betrifft: Nach wie vor sind mir – wahrscheinlich genetisch bedingt – gute Spätzle sehr wichtig. Ich gebe auch auf Anfrage Kässpätzle Workshops.

Das Silke Eberhard – Trio spielt am Freitag, dem 17. Januar im Roten Saal des Braunschweiger Schlosses ab 20 Uhr. Karten im Vorverkauf und an der Abendkasse.

Glück im Unglück

Veröffentlicht: 9. Dezember 2019 in Allgemein

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Text+Fotos: Klaus Gohlke

Das Nathan-Ott-Quartett bescherte zum Nikolaustag hochkarätige Jazz-Feinkost

 Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. So erging es Nathan Ott, Jazzschlagzeuger aus Berlin, als er seine Dezembertour plante. War ja auch prima gedacht und schon mehrfach vorher Probe gelaufen. Eine kleine Supergruppe zusammengestellt mit der New Yorker Saxofonlegende Dave Liebman im Zentrum. Dafür ein interessantes Konzept der Elvin-Jones Band der frühen 70er Jahre aufgegriffen, nämlich zwei Saxofonisten ohne Harmonieinstrument gegeneinander antreten zu lassen. Und auf geht‘s, unter anderem auch nach Braunschweig in den Roten Saal.

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Dann jedoch das Leben, wie es so spielt. Liebman hatte einen schweren Unfall. Spielunfähig. Was tun? Ott, hervorragend vernetzt, fand Abhilfe. Nämlich in Christof Lauer, einem der herausragenden Saxofonisten der Gegenwart, der sich flugs das Tourprogramm drauf schaffte.

Das Konzept, zwei Saxofonisten spielen zu lassen, klingt gut, ist aber nicht ungefährlich. Zum einen stehen die beiden Protagonisten im Mittelpunkt, die „Rhythmiker“ scheinen in den Hintergrund gedrängt. Zum anderen aber ist die Frage, wie die Bläser damit umgehen. Gibt es einen Showdown oder eine gleichgewichtige Kommunikation?

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Lauers Partner war Sebastian Gille, Bigband-Kollege für einige Zeit. Wie würde dieser umgehen mit so einem musikalischen Schwergewicht? Höchst interessante Fragen fürs zahlreich erschienene Publikum und: gute Antworten der Musiker.

Lauer und Gille entwarfen einfühlsam Melodienbögen, gestalteten schöne Unisono-Partien, führten durchdachte, ruhige Dialoge mit allen Bandmitgliedern. Aber dann, in den Improvisationsteilen zeigte Lauer  seine ganze Kraft und Spielfreude. Er folgte gewissermaßen seiner inneren Natur mit nahezu ekstatischen Arpeggien, die wie Klangflächen erschienen, einer Tour de Force die Skalen hoch und runter,  Überblaseffekten, Intervallsprüngen. Hoch konzentriert, trotzdem locker und ohne technizistische Effekthascherei. Und Gille? Stand dem in nichts nach, fand seinen eigenen Zugriff und Ton. Wozu sicherlich auch der Charakter der Kompositionen beitrug, in der Mehrzahl von Ott geschrieben.

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Und die „Rhythmiker“, waren sie die armen, im Dunkel Stehenden? Mitnichten. Jonas Westergaard am Kontrabass leistete Schwerstarbeit. Er hatte auf der harmonischen wie auf der rhythmischen Ebene zu gestalten und zog mit Schlagzeuger Ott gewissermaßen die Streben für die Bläsergebäude ein. In den Up-Tempo-Parts  erhöhte er repetitiv den Druck und gestaltete das rhythmische Konzept farbiger. Ott seinerseits ließ nicht den Bandleader raushängen. Ja, er schuf Raum und nutzte sein Instrument bei der Schlägelarbeit geradezu melodiös. Und ein Drumsolo ohne Muskelspiel als Ausklang eines Stückes – selten zu hören.

Insgesamt beschritten die vier Musiker musikalische Wege, die zwischen großer Offenheit und Gebundenheit, zwischen Abstraktion und feiner Melodiosität verliefen. Metrisch komplex mit beeindruckender Polyrhythmik, ja, mitunter mal weniger harmonisch durchorganisiert, als von der Rhythmik und der Expressivität zusammen gehalten.  Vielleicht nicht immer leichte Arbeit beim Zuhören, aber zu Recht viel Beifall.

Musik ohne Krücken

Veröffentlicht: 27. Oktober 2019 in Allgemein

Drei Tage Neue Musik werden mit „Kompositionen auf Weiß“ virtuos eröffnet

Text und Fotos: Klaus Gohlke

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Die Stimme der Sängerin, sie gurrt, krächzt, flötet, haucht, kreischt, tiriliert, pfeift, schluchzt, spricht, springt in großen Intervallen oder verschiebt sich minimal.. Das Saxophon nimmt das auf, geht dazwischen, umgarnt, schmeichelt, schreit roh dazwischen, spielt im „tiefsten Keller“ und unmittelbar darauf gemein hoch. Das Piano legt rhythmische Fundamente, hebt sie alsbald wieder auf, schafft einen Klangteppich, um ihn wieder zu zerstören, mal Kontrast, mal Umschreibung zu den anderen Stimmen.

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Happening? Chaotische Zufälligkeit? Mitnichten. Nur eine sprachliche – zugegeben unzulängliche – Darstellung eines Momentes des Eröffnungskonzertes „Kompositionen auf Weiß“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Drei Tage Neue Musik“.

Wobei – der Zufall spielt bei dieser Art der Kompositionen schon eine Rolle. Eventuell schon im Titel. Denn: Warum „Kompositionen auf Weiß“? Hätte durchaus auch Schwarz sein können. Oder? Und Komposition – auch irritierend.  „Komposition“, so der künstlerische Leiter der Veranstaltungsreihe, Dr. Vlady Bystrov, „ist hier nicht im traditionellen Sinn zu verstehen! Also als notierte Festlegung.“ Nein, es geht dem Trio Anne-Liis Poll (Gesang), Anto Pett (Piano) – beide aus Estland angereist –  und Vlady Bystrov (Holzblasinstrumente) um freie Improvisationen. Das sei nicht Zufallskram, vielmehr „die höchste Stufe des Musizierens und Komponierens überhaupt!“, so Bystrov in seinem Einführungsvortrag. Komposition und musikalische Praxis seien eins, sogenannte „Echtzeit-Kompositionen“.

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Und in der Tat spielte hier nicht jeder irgendetwas vor sich hin, wie man sich mitunter „Freien Jazz“ vorstellt. Hier interagierten drei Musiker auf höchstem technischem Niveau absolut strukturiert. Jedes Konzert ein Unikat, nicht reproduzierbar. Musikalischen Impulsen, die ohne Festlegung eingebracht wurden, konnte auf den Ebenen der Rhythmik, Dynamik, Harmonik und Melodik, Instrumentierung,  Tonalität, des Sounds,

des Tempos begegnet werden. Ein hochkomplexer Austausch, der große Virtuosität und Souveränität voraussetzt. Musik ohne Krücken.

Den Freunden der Neuen Musik, an die 40 waren zum Eröffnungskonzert am Freitagabend in der Dornse erschienen, wird dabei eine aktive, aber nicht einfache Rolle eröffnet. Nämlich die Aufführungsideen zu dechiffrieren, was aber bei der Flüchtigkeit des Mediums wohl

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eher nur punktuell gelingt. Man kann sich aber genauso gut einfach den Bildern, die sich beim Zuhören einstellen, hingeben. Auch hier gilt Regelfreiheit.

So abstrakt und klanglich verwunderlich diese Musik sich anhört, so begeisternd kann es auch sein, die Einfälle der Musiker, ihre sensible Art des Aufeinander-Reagierens, zu verfolgen. Aber allein zu hören, was Anne-Liis Poll mit ihrer Stimme zu leisten vermochte, war faszinierend und unbeschreiblich. „I’m a human bird!“, meinte sie schlicht. Ein menschlicher Vogel.

 

Die „Drei Tage Neue Musik“ des Vereins „Freunde Neuer Musik“ in Kooperation mit dem Louis Spohr Musikzentrum waren dem Bauhaus-Jubiläum gewidmet. Ob das Eröffnungskonzert mit Bauhaus-Ideen zu tun hatte, sei dahin gestellt. Über jeden Zweifel erhaben aber war die Begeisterung aller Anwesenden über diese Konzert- Eröffnung.

 

Hochkomplexe Trioarbeit

Veröffentlicht: 22. Oktober 2019 in Allgemein

Das Schweizer Piano-Trio VEIN spielt reduzierte Bigbandkompositionen und Ravelbearbeitungen im Roten Saal zu Braunschweig   Text und Fotos: Klaus Gohlke

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„Symphonic Bop“ war das Konzert des Schweizer Klaviertrios „Vein“ bei der Initiative Jazz Braunschweig betitelt.  Was meint „Symphonic“ im Zusammenhang mit einem Jazztrio? Bop ist ja unmittelbar einleuchtend. Nun, es ist eine etwas unglückliche Bezeichnung, die zurückzuführen ist auf das letzte Projekt der Schweizer mit der Norbotten Bigband. Eine Kooperation von Trio und Groß-Ensemble  sollte erprobt werden, die die jeweiligen Charakteristika beider Formationen ohne Selbstaufgabe verschmelzen sollte. Schon hier aber war „symphonisch“ irreführend. Es wurde weder symphonische Musik gespielt, noch hat eine Bigband Sinfonieorchester-Stärke.

Was nun am Freitagabend im Roten Saal zu Gehör gebracht wurde, war eine Reduktion dieser Bigband-Arrangements, ein Herunterbrechen auf Kammermusik-Jazz-Ebene. Nicht, dass das nicht geglückt wäre. Im Gegenteil, grundsätzlich gesehen. Nur, dass gewisse Hörerwartungen, die eventuell in Richtung durchschaubaren „Third Stream“ gingen, gleich zu Beginn enttäuscht wurden.

„Vein“ spielte, wenn schon, dann eher Bop, wobei das auch nicht stimmt. Es war eine Mixtur hochkomplexer Trioarbeit, die einerseits eine Aneignung der Jazztradition widerspiegelte, andererseits aber sehr eigenständige Fortentwicklungen des Jazz bot. Ergänzt durch Bearbeitungen von Ravel-Kompositionen, nur für Experten als solche erkennbar, was aber durchaus kein Handicap sein musste.

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Der Einstieg mit „Boarding the Beat“ war kein sanftes Hinführen zum Vein-typischen musikalischen Denken, sondern es ging gleich zur Sache. Wohl war da eine thematische Einführung, dann aber ging es zügig in die Durchführung, die sich durch konzentriertes Interplay auszeichnete. Vor allem die Rolle von Thomas Lähns am Kontrabass war spannend zu hören, nämlich einerseits eine rhythmische Grundierung mit und über das Schlagzeug hinaus zu liefern, andererseits die Piano-Exkurse melodisch einzuleiten und zu umspielen. Die Band  zeigte sich dynamisch und rhythmisch variantenreich und jazzaffin, wenngleich immer wieder Hinweise auf klassische Musik aufschienen.

Was „Vein“ an diesem Abend aber offenbar auch demonstrieren wollte – oder wollte es nur der Schlagzeuger Florian Arbenz? – war nicht ganz unproblematisch. Dass es nämlich nicht ein typisches Klavier-zentriertes Piano-Trio sein wollte, sondern durchaus andere Akzente zu setzen weiß. Florian Arben, so schien es streckenweise, wollte wohl den kammermusikalisch-klassischen Ansatz mit Jazzrock-Anleihen durchlöchern. Nicht, dass er im Laufe des  Abends dynamisch einfallsarm geblieben wäre! Überhaupt nicht. Wunderbar sein Duo mit Lähns etwa, seine Besenarbeit später.

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Aber er zeigte sich als ungemein kräftiger Gegenpol zum  Pianospiel seines Bruders Michael. Sein Können beeindruckte, aber er überlagerte seine beiden Mitspieler mitunter doch sehr. Das konnten das Pianosolo in „Reflections in D“ und die Ravel-Bearbeitung „Mouvement de Menuet“ nur partiell kompensieren.

Die Kompositionen waren komplex, anspielungsreich, keinesfalls flacher Third Stream. Eine sehr eigenständige Tonsprache des Jazz wurde erlebbar, nur die an „Vein“ so gelobte größtmögliche Ausgewogenheit ihres Interplays konnte man an diesem Abend nicht unbedingt erleben.

 

Kammermusik mit produktivem Hintersinn

Veröffentlicht: 30. September 2019 in Allgemein

Das Londoner Phacelia-Ensemble spielt im Lucklumer Rittersaal ein hinreißendes Jubiläumskonzert  zum 200. Geburtstag von Clara Schumann         Text/Fotos: Klaus Gohlke

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Die Komture und ihre würdigen Verwandten blickten sehr ernsthaft aus ihren Bilderrahmen auf das Auditiorium und die Musici im Rittersaal des Herrenhauses zu Lucklum. Von der Sache her bestand dazu aber gar kein Anlass. Kammermusik sollte zur Aufführung gelangen. Vorgetragen vom jungen und doch schon renommierten Londoner Phacelia-Ensemble. Und zwar Kammermusik, die eher mit Schwung, Licht und Willen, denn düster-melancholisch daherkommt. Zudem ein Gruß zum 200. Geburtstag Clara Schumanns.  Allerdings mit Hintersinn! Was an der Kuratorin und Leiterin des Ensembles liegt,  der gebürtigen deutschen Pianistin  Elisabeth Streichert. Großartige Klaviermusik sollte, so ihre Idee, auch in kleinen Konzertsälen stattfinden. Was bedeutet, orchestrale Werke für kleine Ensembles umzuschreiben, damit eine Tradition des 19.Jhd. aufgreifend.

So offerierte man ein formal und historisch gemischtes Programm, das sehr klug mit einem Werk der Frühmoderne, nämlich Zoltán Kodálys Streichquartett No.2 begann. Selten gespielt, vielleicht, weil es etwas rau sich präsentiert. Zwischen unruhig-schrägen, aufbegehrenden Momenten und zurückhaltenden Passagen, Heftig-Bewegtem und Elegischem  kontrastiv changierend, kommt das Werk oft recht dissonant daher, in seiner freien Struktur nicht leicht durchschaubar. Trotzdem oder deshalb faszinierend, und für die Streicherinnen und Streicher sicherlich ein Leckerbissen, weil technisch herausfordernd und beeindruckend. Ein absolut überzeugender Einstieg.

Höchst gespannt konnte man dann auf die Realisierung der Transkription von Clara Schumanns einzig überliefertem Klavierkonzert a-Moll op.7 sein. Mit 16 Jahren komponiert, gewissermaßen ein Sturm-und-Drang-Werk, mit dem Klara zeigen wollte, wo die Harke liegt. Ein echtes Orchesterstück, nunmehr „herunter gebrochen“ auf ein Klavier-Sextett. Allerdings ohne Bruch. Der Maestoso-Beginn des Originals wird kammermusikalisch reduziert, ohne an Kraft zu verlieren. Die Transparenz der Stimmen wirkt hier gleichsam als Folie für den stolzen, virtuosen Anfang und die dann folgende Fantasie. Freilich bietet sich die Clara Schumannsche Komposition auch geradezu an für diese kleine Formation, insofern es im zweiten Satz ausgreifendere Klaviersolo-Passagen und die als Klavier-Cello-Dialog gestaltete  Romanze gibt. Zu Herzen gehend. Der tänzerische dritte Satz dann zeigt wiederum das Besondere der Umarbeitung. Natürlich ersetzen fünf Streicher kein Orchester. Wohl aber kommen so fünf Stimmen mit je eigenem Aussagecharakter zu Wort. Lediglich die Pizzicati gehen beim Powerplay des Klaviers  etwas unter.

Franz Schuberts Klavierquintett A-Dur, das sogenannte Forellenquintett, ist für den zweiten Teil des Konzertes klug gewählt. Einmal mit Blick auf das Auditorium: Der 4. Satz, den Variationen über das Lied von der Forelle, so etwas wie das Herzstück des  Werkes, hat schon fast Gassenhauer-Charakter. Aus Sicht der Musiker: Eine Komposition, in der man alle musikalisch-technischen Qualitäten und Ausdrucksmöglichkeiten entfalten kann. Und das tat das Ensemble. Es gelang den fünf Interpreten mit ihrem höchst aufmerksamen Interplay und der technischen Brillanz die formale und klangliche Schönheit des Werkes aufscheinen zu lassen.

Das abschließende folkloristisch inspirierte „Scarborough Fair“ war ein stimmungsvoller Schlusspunkt dieses vorletzten Kammermusik-Nachmittags im Lucklumer Herrenhaus. Große Anerkennung beim Publikum.

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Das Konzert wurde vom Deutschlandfunk Kultur mitgeschnitten und wird am 1. Oktober von 20.03 bis 22 Uhr übertragen.

 

Besser geht nicht

Veröffentlicht: 27. September 2019 in Allgemein

20190926_202618Das Trio des israelischen Jazzbassisten Avishai Cohen beeindruckt nachhaltig  bei Kultur im Zelt                                                                                   Text/Fotos: Klaus Gohlke

Das war schon volles Risiko, den israelischen Bassisten Avishai Cohen mit seinem Trio am Donnerstagabend in das Kulturzelt als Haupt-Act nach Braunschweig zu holen. Nicht, dass er dessen nicht würdig wäre. Ganz im Gegenteil. Wenn nicht ihn, wen sonst? Aber – wer kennt ihn schon, diesen Nischen-Genre-Musiker?

Zudem: Cohen ist eine Art Chamäleon. Mal gibt er sich afro-karibisch, dann strikt modern-jazzig. Sein letztes Album „1970“ kam sehr kommerziell daher. Also: alles nicht leicht einzuschätzen. Und so fehlte es dem Konzert an dem Zuspruch, den es verdient hätte. Nicht schlecht besucht, aber auch nicht gut. Deshalb die fehlende offizielle Konzerteröffnung? Schon seltsam.

Cohen kam mit seinem langjährigen Schlagzeuger Noam David und einem jüngeren aserbaidschanischen Pianisten, Elchin Shirinov. Beides keine Begleiter, sondern absolut ebenbürtige Partner. Und sie spielten Cohens jüngstes Album „Arvoles“ wie aus einem Guss. Musik, die sich aus vielen Traditionen speiste, oftmals schön lyrisch-liedhaft „erzählt“. Afro-Karibisches, traditionell Sephardisches, Swing, Bop, Ethno und Fusion. Aber nicht zusammengekleistert, sondern in den Eigenkompositionen sinnvoll entwickelt.

Das spielte kein Klaviertrio im üblichen Sinne. Die Rollen waren vielmehr gleichwertig verteilt, niemand nur Zuträger. Die Soli blieben konsequent begleitet und besonders erfreulich war, dass Cohen immer wieder mit dem Bogen spielte, was das Spiel von den Klangfarben und den rhythmisierenden Möglichkeiten her ungemein farbig werden ließ.

Musik auf höchstem Niveau. Stehende Ovationen aus tiefem Respekt und eigentlich auch für den Mut der Veranstalter.

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Wind oder Walze

Veröffentlicht: 26. August 2019 in Allgemein

                                   20190824_161032Text und Foto: Klaus Gohlke

„Akablas“ feiert seinen 55. Geburtstag mit einem World Tour Konzert in der Braunschweiger Stadthalle

„Akademische Bläservereinigung an der TU Braunschweig“ – klingt eher uncool, staubtrocken. Und dass es diese Truppe schon seit 1964 gibt – ist das nun ein Zeichen von Frische oder von dröghafter Tradition? Wenn man allerdings ihren Social-Media-Countdown bis zum Jubiläumskonzert am Samstagnachmittag in der Braunschweiger Stadthalle anschaut, wirkt das gar nicht so lebensfern-distanziert. 6, 5, 4, 3, 2, 1 Stunde, dann noch 20 Minuten bis zum Beginn – das riecht doch reichlich nach Lampenfieber oder?

„Blasen“ werden die rund 100 Musikerinnen und Musiker umgangsdeutsch locker genannt. Machen sie auch fast alle. Hölzer und Bleche blasen. Als wichtige Würze dazu etwas Schlagzeug und Perkussion.

Das klingt nach „Wall of Sound“, Klangwalze. Beeindruckung durch schiere Überwältigung. Die Engländer sprechen da untertreibend lieblich vom „Wind Orchestra“. Darüber nachsinnend, was es denn nun wirklich ist, Wind oder Walze, beginnt das Konzert schon mit einem Vorkonzert. Einer kleinen Zuhörer-Choreo, wenn  man so will. Rhythmisches Klatschen, Gesangsansätze, Vuvusela-Einsatz. Auf geht’s! Blaseneinmarsch. Gesang schon aus dem Off. „Let me entertain you“, die alte Robbie Williams Nummer.

Aber überhaupt nicht staubtrocken und uncool. Ein Gang durch die populäre Musikgeschichte der letzten 50 Jahre.  Bon Jovi,  Rock ’n‘ Roll – Medley (schön swingend!), später auch einer zur „Neuen Deutschen  Welle“.  Soundtracks aus James Bond und Disney-Produktionen. Durchmischt mit Smash-Hits wie „Hey Jude“ der Beatles und Abbas „Waterloo“. Musical- und TV-Serien-Themen. Und noch ein paar klassische Ohrwürmer, als da wären „You raise me up“ und „We are the world“.

Das nun nicht chronologisch abgewickelt, sondern bunt gemischt und verknüpft mit der Darstellung zentraler Ereignisse aus der Geschichte dieses Blasorchesters. Auch zukünftiger, wie dem September-USA-Trip inklusive Teilnahme an der New Yorker Steuben Parade. Nicht blutarm vorgeführt, sondern gestaltet nach allen Regeln des heutigen Entertainments.  Also multimedialer Ansatz mit Videoprojektionen und konsequenter Publikumsaktivierung. Abwechselnd moderiert durch den musikalischen Leiter des Orchesters, Benedikt Hampel, und den Flügelhornisten und Vereins-Vorständler Jeldrick Powitz. Alles bis ins Detail je nach Musikstück noch liebevoll ausgestaltet mit passenden Requisiten.

Überwältigung durch Klangmasse? Nein. Die Adaptionen,  allesamt von international ausgewiesenen Arrangeuren stammend, wurden so umgesetzt, dass die Klangfarben und Ausdrucksmöglichkeiten der einzelnen Sektionen trotz ihrer Größe gut zum Tragen kamen. Manche Stücke freilich sind besser geeignet. „Hey Jude“ etwa bot viele Möglichkeiten sich zu entfalten, generell die Filmmusiken. Während Pop-Schmalz à la Bon Jovi nicht wirklich sich veredeln ließ. Schön dabei einzelne Soloparts, die man sich häufiger wünschte, wie auch ab und an mehr „Frechheit“, was Harmonik und Rhythmik angeht.

Fast eine Art Familienfest war es mit einem begeisterungswilligen Publikum und Musikerinnen und Musikern, denen der Spaß an der Sache anzumerken war. Klar doch: Stehende Ovationen und ein „Tiger Rag“ in Rekordtempo als Highlight!

Wanderer zwischen Klangwelten

Veröffentlicht: 10. August 2019 in Allgemein

19-179-56Der Braunschweiger Jazzpianist Elmar Vibrans erweist sich als erstaunlicher Allrounder                                                 Text: Klaus Gohlke  Fotos: Elmar Vibrans

 Kultur im Zelt, Bassgeige, Staatstheater Braunschweig, Figurentheater Fadenschein, BS-Energy Café, Kulttheater, Roter Saal, Galerien. Überall taucht er auf, aber das sind längst nicht alle Orte. Und spielt dort Klavier, Orgel, Synthesizer, Akkordeon, Bass, Melodica, Gitarre. Was vergessen? Ja, Schneemann, eine Nebenrolle im Kindertheater. Er komponiert, leitet, macht Geräusche. Ein Workaholic also? Ein hyperaktiver Musiker?  Mitnichten. Elmar Vibrans sitzt am Tisch. Ruhig, nahezu entspannt, freundlich-sachlich erzählt er davon, was ihn bewegt, interessiert. Wie er zur Musik kam.

In den USA 1963 geboren, aber gleich danach mit der Familie, alteingesessene Braunschweiger, zurückverpflanzt in ein Dorf bei Schöppenstedt. Schule, Klavierstunde und Musik aufsaugen. Art- und Progrock, später Jazzrock, also etwa Genesis, Pink Floyd, Manfred Mann’s Earthband, Yes, Joni Mitchell, George Duke, Joe Zawinul, ELP. Brechen wir hier einfach mal ab.  Aber immer schon weg vom Mainstream, vom Pop vor allem. Was er nicht mochte, das war das Solo-Gegniedel. „Ich mag Musik mit Songstrukturen. Ich bin melodieorientiert.“ Auch das Covern von Songs ist nicht seins. „Fürs Handwerkliche ist das gut, ja. Aber es ist letztlich langweilig. Ich muss mich selbst einbringen können mit meinen musikalischen Ideen.“

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Das Tricksige liebt er, witzige Ideen. Wie Musik noch klingen kann, das interessiert ihn. Acht Projekte hat er am Laufen. „Das klingt jetzt gewaltig. Aber das läuft ja nicht alles gleichzeitig. Sehr verteilt über die Wochen und Monate!“, stellt er gleich klar. Sie spiegeln seine musikalischen Interessen wieder, sind ein Spiegelbild seiner selbst.

Es gibt da Jazzzrockiges und Souliges. Diverse Trios für Standards und Pop-Jazz, für Eigenkompositionen. Bands, in deren Zentrum Verbindungen von Jazz und Literatur stehen. Und dann ist da noch ein Duo mit dem Braunschweiger Jazzgitarristen Dietmar Osterburg („eigentlich mein Lieblingsprojekt“) und schließlich noch ein Freejazz-Ensemble.

„You can’t catch me. Festlegen, nein, danke!“, könnte man frei übersetzen. Das gilt auch für ihn als „Tastenmensch“. Klavier spielt er, na klar. Aber auch die elektronischen Piano-Verwandten bedient er professionell. Professionell? Ist er professioneller Musiker? „Ja, ich lebe davon. Nicht von den Auftritten allein, auch nicht von Theaterarbeit. Das ist gutes Zubrot. Basis ist der Klavierunterricht. Ich bin eigentlich studierter Geologe. Aber ich hatte gute Kontakte zur hiesigen Musikszene, vor allem fünf Jahre Jazzpiano-Unterricht bei Otto Wolters. Ich dachte, dass ich tun sollte, was mir Spaß macht. Wissen Sie, ich bin ein Mensch, der die Sache auf sich zukommen lässt!“

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Das trifft es. So präsentiert er sich bei den Auftritten. Er steht nicht im Zentrum. Aber auch nicht am Rande. Er ist nicht der Tastenlöwe, aber auch kein Backgrounder. Folgerichtig interessieren ihn auch nicht Solo-Piano-Projekte, etwa  in Keith-Jarrett-Manier. „Ich brauche den Dialog mit den anderen Musikern. Improvisation ist deswegen toll, weil man Ideen kommuniziert, angeregt wird. Am extremsten im freien Spiel beim „Ensemble auf Zeit“, da ist man musikalisch echt gefordert.“

Vibrans ist ein gefragter Musiker in der Braunschweiger Szene, was natürlich mit seiner Kompetenz und musikalischen Neugier zu tun hat. Er ist hervorragend vernetzt,  vor allem aber: er ist zuverlässig. Er sieht aber auch, dass es für ihn eine Art „Gnade der frühen Geburt“ gibt. „Als ich mit der Musik anfing, als sich die Szene hier entwickelte, gab es noch keinen Studiengang „Jazzmusik“. Heute ist der Konkurrenzdruck viel größer. Ich komme – wie früher üblich- von der Praxis her. Die steigen heute mit hohem Niveau ein, müssen dann aber eine eigene Sprache finde, was unheimlich schwer ist.“

 

Gibt es noch Ziele für ihn? Vibrans denkt nach. „Ja, weitermachen. Neue Synthie-Sounds raustüfteln, sich verbessern und die Herzen der Leute gewinnen.“ Letzteres dürfte mit der Nische Jazz nicht so einfach sein. Da er aber musikalisch offen ist, hat er keine schlechten Chancen.

Virtuoses auf der Problemorgel

Veröffentlicht: 29. Juli 2019 in Allgemein

Der New Yorker Ausnahme-Organist Stephen Tharp begeisterte mit einem außergewöhnlichen Konzertprogramm

          Text und Fotos: Klaus Gohlke

Internationaler Riddagshäuser Orgelsommer 2019: die Fünfte. Trotz anstrengenden  Wetters eine außerordentlich gut besuchte Veranstaltung. Diesmal ist Stephen Tharp aus New York angekündigt. Viele Vorschlusslorbeeren. Auch recht eigenartige für unsere Ohren. „Der beste Organist in Amerika!“ Und: „Gelistet im `Who is Who der USA‘, sowie im ‚Who is Who der Welt‘!“ „1500 Konzerte während 57 Touren weltweit!“ Es dröhnt so manches derzeit von jenseits des Atlantiks. Nun auch hier?

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Eröffnen will er das sonntägliche Konzert mit Georg Friedrich Händels „Feuerwerksmusik“. Ein Werk mit riesigem Orchesterapparat. Barocker Gigantismus, fast ein Gassenhauer. Tharp  hat es für die Orgel transkribiert, also umgearbeitet. Höchst spannend dieser Einstieg und verblüffend, weil überhaupt nicht auf Effekt getrimmt. Aus der staatstragenden, oft bombastischen  Musik anlässlich der Beendigung des Österreichischen Erbfolgekrieges lässt Tharp eine Friedensfeier mit vielen tänzerischen Elementen entstehen,  durchbrochen von nachdenklich-elegischen Passagen. Das eher extrovertierte Barocke wird ins Innere verlegt, ohne deswegen an Lebendigkeit zu verlieren.

Dass der New Yorker Organist, bei allem Temperament, nicht darauf aus war, das Publikum zu überrumpeln und die Klangmöglichkeiten der Orgel bis aufs Letzte auszuschöpfen, zeigten seine Bachinterpretationen. Die Choralbearbeitung „An den Wasserflüssen Babylon“  beeindruckte durch eine transparente Registrierung, die die  Schönheit der Melodie erkennbar werden ließ. Die Verknüpfung des Chorals mit „Präludium und Fuge e-moll“ sollte möglicherweise auf die damals übliche Bachsche Improvisationspraxis anspielen. Beides ging Tharp mit viel Tempo an, Trotzallem ließ sich die Struktur gerade der Fuge gut erkennen. Das gilt auch für seine Bearbeitung der Bachschen „Chromatischen Fantasie und Fuge“.

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Man konnte sich zwar durchaus vorstellen und mitunter wünschen, dass über eine Temporücknahme die Reflexionstiefe des Werkes vergrößert würde. Andererseits sind die perlenden Läufe der Komposition natürlich verführerisch. Um der Gefahr der brillanten Oberflächlichkeit zu entgehen, durchbrach Tharp in der abschließenden Fuge auf höchst verblüffende Weise mit dem Einsatz der „Vox humana – Stimme“ den Tonfluss. Es war wie ein Stoß in eine andere Klang- und damit Gefühlswelt. Deutlich wurde hier, wie genau sich der Organist mit der Registratur der Orgel und ihren Möglichkeiten beschäftigt hatte. Gerade die Bearbeitungen sind ja nicht umstandslos auf den jeweiligen Instrumenten zu spielen.

Musikalisch-historisch aus der Rolle fielen gewissermaßen die Auszüge aus William Albrights Orgelbuch 3.  Gerade die „Underground Streams“ und das „Nocturne“ überschritten übliche melodische und harmonische Muster hin zu teils atonalen atmosphärischen Klangflächen mit scharfen dynamischen Brüchen. Tharps Auswahl zeichnete sich dadurch aus, dass er Plakatives vermied, auch hier die Möglichkeiten des Instrumentes gut bedenkend. „Die Orgel ist in keinem guten Zustand!“, sagte er im anschließenden Gespräch. „Die Manuale sind nicht mehr gut zu bedienen!“ Und „Orgelhausherr“ Kantor Hans-Dieter Karras ergänzte, dass dicke Staubablagerungen und Schimmel eine umfassende Restaurierung dieser „Königin der Instrumente“ erforderten.

Der hohen Qualität des Konzertes tat das aber keinen Abbruch. Das Publikum war begeistert, und Stephen Tharp bedankte sich mit einem Bachschen Frühwerk als Zugabe.