Was Menschen Menschen antun

Veröffentlicht: 20. März 2018 in Allgemein

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Chöre vereinigten sich in St. Katharinen zur Matthäus-Passion      Text/Foto: Klaus Gohlke

Komisch, da wird jahrelang Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ in unserer Region nur ganz vereinzelt zu Gehör gebracht und diesmal innerhalb einer Woche gleich dreimal. In Helmstedt, Wolfenbüttel und am Sonntag nun auch in Braunschweigs St. Katharinen.

Was reizt die Kirchenmusiker eigentlich, sich an Bachs „großer Passion“ abzuarbeiten. Ein Opus – einzigartig in Ausmaß und Komplexität! Der große Aufriss? Im Original immerhin drei Chöre, zwei Orchester und etliche Solisten? Oder so etwas wie Selbstprüfung? Imagepflege? Oder einfach der Wunsch, Außergewöhnliches, Großartiges, Schönes in Gemeinschaft zu Gehör zu bringen?

Was reizt die Zuhörerinnen und Zuhörer eigentlich? Die Konzerte sind stets gut besucht. Warum zweieinhalb Stunden auf nur schwach gepolsterten Kirchenbänken ausharren? Die Story etwa? Jesu Leiden und Tod? Wenig erbaulich und auch hinreichend bekannt. Da ist ja keine sakrale Weihnachtsstimmung erhältlich. Ist’s dann die religiöse Botschaft? Wohl kaum in unserer glaubensfernen Zeit.

„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“, singen die Chöre im Exordium. „O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet!“ Und die Chöre singen weiter: „Seht – Wohin? – auf unsere Schuld!“ In Christi Leiden steht sie uns vor Augen. „Ecce homo“, sagt später Pilatus. „Sehet, welch ein Mensch!“ Die Passion aber sagt und zeigt somit: Was sind wir doch für Menschen! Das heißt: Wir begegnen uns selbst.

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Bach mag uns die Welt des barocken Menschen zeigen, wie man gern sagt. Aber er geht doch weit darüber hinaus ins Grundsätzliche, über alle Religion hinaus. Er macht über die Musik lebendig, was menschliches Leben ausmacht. Neid, Hass, Verrat, Demütigung, Folter, Mord, Wegsehen, aber auch Leiden, Schmerz, Verzweiflung, Todesangst und schließlich Liebe, Reue, Mitgefühl, Erbarmen. Und schon sind wir mitten in der Gegenwart oder? Bei den Pegida-Demos, den Herren Trump, Putin, Erdogan, in Syrien, im Sudan…

Aushaltbar? Nur dadurch, dass Bach die Zuhörer in unterschiedliche Rollen versetzt, eine Art aktiven Zuhörens ermöglicht. Zwischen heftigster Aktion sind es die Arien und Rezitative, die Zeit schaffen, das Gehörte zu verarbeiten, tiefste Gefühle zu entwickeln, ohne an ihnen zu scheitern. Und dann die wunderbar singbaren Choräle, in denen die Gemeinde des unschuldig zum Tode Verurteilten gedenkt.

Und alle im Kirchenschiff sind am Arbeiten und Verarbeiten. Die Partitur lesend, das Libretto verfolgend und intensiv zuhörend. Das gelingt nur deshalb, weil die Musik unter der Leitung des Landeskirchenmusikdirektors Claus-Eduard Hecker so gekonnt präsentiert wird. Man hätte sich insgesamt mehr Zug in der Aufführung denken können, mehr Wucht. Aber die Kantoreien von St. Marien Wolfenbüttel, St. Katharinen, sowie der Cantus firmus Chor der Städtischen Musikschule wirkten im Zusammenspiel mit dem Kammerorchester St. Katharinen gut ausbalanciert. Die SolistenInnen Lisa Schmalz (Sopran), Geneviéve Tschumi (Alt), Ezra Jung (Bass/Jesus), Henryk Böhm (Bass/Arien) und Sebastian Franz (Tenor/Evangelist) überzeugten farben- und facettenreich. Wäre da nur nicht das ewige Problem mit der schwierigen Akustik der Kirche.

Was Musiker und Zuhörende an der Aufführung an der Matthäus-Passion reizt? Müsste eigentlich klar geworden sein. Lang anhaltender, herzlicher Beifall.

 

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